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Zum Renteneintritt von Hans Schall

In der Arbeit mit den Familien und deren Kindern müssen wir immer wieder einen Perspektivwechsel vollziehen und gesellschaftliche Machtverhältnisse reflektieren.“

Kaum zu glauben, unser langjähriger Kollege Hans Schall ging zum 31.5.2023 in Rente. Unermüdlich war er seit vielen Jahren zuständig als Bereichsleiter für unsere stationären Wohngruppen. Nach seinem Start in der direkten Basisarbeit in der Wohngruppe Gartenstraße und einem kurzen Ausflug in den Mobilen Dienst an der Französischen Schule ist er mit Leib und Seele ein Verfechter guter „Heimerziehung“ geblieben. Meist stand er schon früh morgens in seinem Büro, die Türe geöffnet, konzentriert beim Lesen von Mails, Hilfeplanprotokollen, Tischvorlagen oder Arbeitszeugnissen. Mit seinem freundlichen Lachen war und ist er ein wahrer Menschenfänger. Er interessiert sich für sein Gegenüber, will’s genau wissen – jedenfalls dann, wenn der Funke übergesprungen ist. Jutta Goltz hat sich mit ihm getroffen, um nach über 25 Jahren in der Einrichtung einen Blick zurück und nach vorne zu werfen.

Hans, woher nimmst du deine Motivation für diese Arbeit, die ja doch auch sehr anspruchsvoll ist und belastend sein kann?

Die Motivation kommt aus mir selbst heraus: ich möchte das, was ich machen soll und muss, auch gut machen. Ich identifiziere mich mit der Arbeit und der Einrichtung, ich möchte für die Kinder und Jugendlichen und die Mitarbeiter*innen da sein. Entgegen kommt mir hier meine Persönlichkeitsstruktur: ich bin sehr verbindlich, zuverlässig und verantwortungsbewusst. Dabei hilft mir meine innere Einstellung: es gibt immer wieder (neue) schwierige Konstellationen, aber nicht für alles gibt es gleich eine Lösung. Auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, dass wir in der Jugendhilfe Mangelverwaltung betreiben, überwiegt bei mir die Freude, der Spaß und ich bekomme sehr viel Positives zurück. Zum einen halten mich die anstehenden Themen jung - Pubertät, Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen, gesellschaftliche Herausforderungen -, zum anderen arbeite ich mit vielen Teams, in denen junge, engagierte Kolleg*innen mit ihren Ideen präsent sind. Zudem sind wir mit unserer Arbeit an zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen dran (Stichworte: Fluchtbewegungen, Armut, Corona) und dadurch erlebe ich eine unmittelbare Sinnhaftigkeit.

Was bedeutet „Positives zurück bekommen“ konkret?

Es beeindruckt mich immer wieder, mit welcher Kraft sich Jugendliche - trotz ihrer biographischen Erfahrungen - berappeln, wie sie im Hilfeprozess mitarbeiten und es hier zu positiven und nicht unbedingt zu erwartenden Entwicklungen kommt. Das unterstützen zu können, ist wirklich toll. Ich bekomme Rückmeldung von den Teams und Kolleg*innen, dass sie mich schätzen, dass sie mich brauchen und ich für ihre Arbeit eine wichtige Rolle spiele. Dass ich mich für sie einsetze, dass sie ihre Arbeit gut abgesichert machen können, dass ich mich vor sie stelle, wenn sie angefeindet oder abgewertet werden - eine anspruchsvolle und gute Aufgabe. Und auch von Eltern bekomme ich positive Rückmeldungen, wenn sie sich in Hilfeplangesprächen ernst genommen fühlen.

Wie hat sich das Arbeitsfeld der stationären Jugendhilfe im Laufe deines Arbeitslebens verändert?

Der Arbeitsbereich ist massiv gewachsen: von ehemals 4 Wohngruppen mit 24 Plätzen auf mittlerweile 7 Wohngruppen mit 50 Plätzen. Gerade noch kurz vor Jahresende startet die achte Gruppe für unbegleitete geflüchtete Jugendliche. Insgesamt ist das eine sehr beachtliche Entwicklung - noch vor 15 Jahre herrschte die Einschätzung vor, dass angesichts des demographischen Wandels ein Rückgang des Bedarfs an stationären Plätzen zu erwarten wäre. Dem ist jedoch nicht so, der Bedarf ist groß, die Plätze werden gebraucht. Ich nehme eine massive Zunahme psychischer Erkrankungen wie Borderline-Diagnosen, selbstverletzendes Verhalten wahr, das Thema Medikation steht sehr viel mehr im Vordergrund. Und ich stelle eine Verschiebung fest: früher ging es vielfach um das Thema Aggression, heute viel eher um Depression, Rückzug, Sozialphobie. Auch die Themen Schulabsentismus, Schulverweigerung und Schulängste nehmen massiv zu.

Insgesamt hat eine große Professionalisierung statt gefunden - das ist natürlich unter fachlicher Perspektive schön. Es birgt aber auch die Gefahr einer größeren Verregelung: Leitfäden, Konzepte, Abläufe, Arbeitszeiterfassung - hier steht der bürokratische Aufwand manchmal nicht in Relation zur pädagogisch notwendigen Unterstützung. Angesichts des immer stärker spürbaren Fachkräftemangels müssen wir ganz neu in die Ausbildung und Qualifizierung von Mitarbeiter*innen investieren - wir bilden in der Einrichtung breit aus – duales Studium, Fachschüler*innen Jugend- und Heimerziehung, Praxisintegrierte Ausbildung. Für unsere Beschäftigten gibt es eine Fülle an Unterstützungen: Mitarbeiter*innengespräche, Supervision, Fortbildungen, Mentoring, Werkstatt-Tage, der interne therapeutische Fachdienst - hier sehe ich einen massiven Qualitätszuwachs. Unsere Teams werden sehr gut und intensiv begleitet, das ist keine Selbstverständlichkeit. Aus meiner Sicht ist das wichtiger denn je, denn die neuen Kolleg*innen aus dem Bachelorstudium sind häufig zwar hoch motiviert, aber deutlich jünger und weniger lebenserfahren als Berufseinsteiger*innen noch vor einigen Jahren.

Wie hat sich die Gesamteinrichtung in den letzten Jahren verändert?

Wir haben einen Prozess der Ausdifferenzierung hinter uns, der auch mit vielen räumlichen Rochaden verbunden ist. Der Umzug 2011 an den Lorettoplatz (damals bei einem Teil der Belegschaft verbunden mit der Befürchtung, womöglich die eigene Identität aufzugeben), der Umzug der Wohngruppe nach Kilchberg, neue Räume in der Poststrasse, der Bau des Stadtteiltreffs Brückenhaus – um nur einige zu nennen.

Die Einrichtung als Ganzes ist gewachsen und dennoch versuchen wir, das große Ganze abzubilden und zu bewahren, Räume für Austausch und Begegnung zu schaffen - der Betriebsausflug ist dabei genau so wichtig wie gemeinsame Fortbildungen. Hier leistet die Einrichtungsleitung sehr viel. Auf Leitungsebene haben wir gute Kommunikationsstrukturen gefunden, eine Neuaufteilung von Arbeitsbereichen vorgenommen, Tandems installiert. Dadurch konnten wir den Generationenwechsel sehr gut und geschmeidig bewältigen, es gab keine Brüche, sondern organische Veränderungen, es ist eine offene und lebendige Atmosphäre. Die Namensänderung war ein wichtiger und richtiger Schritt.

Worauf kommt es in der Kinder- und Jugendhilfe an?

Es braucht eine Qualität, die auch von der Einrichtung getragen wird: gleichzeitig ein „gefördert und gefordert werden“. Und es ist sicherlich auch eine Einstellungsfrage: wir machen hier nicht nur einen Job, wir arbeiten mit Menschen und für Menschen. Das verlangt Engagement, Kreativität, Flexibilität und Empathie. Und die Rahmenbedingungen müssen stimmen: gute Kooperationen, fachliche Konzepte, ausreichende finanzielle und personelle Ressourcen und personelle Kontinuität, Raum für kontroverse Diskussionen.

Die fachliche Haltung muss durch ein kritisches Bewusstsein geprägt sein, die Fähigkeit, die eigenen Haltungen und Positionen zu hinterfragen. In der Arbeit mit den Familien und deren Kindern müssen wir immer wieder einen Perspektivwechsel vollziehen und gesellschaftliche Machtverhältnisse reflektieren. Viele Fachkräfte haben studiert, kommen aus schadlosen Biographien und treffen auf stark belastete Menschen, diesen muss mit Wertschätzung begegnet werden.

Unser Anliegen muss sein, die Standards, die wir uns in den letzten Jahren erarbeitet haben, zu halten und zu verteidigen. Ich befürchte, dass nach einer Phase des Ausbaus und der Differenzierung ein Schrumpfungs- und Beschneidungsprozess eintreten wird. Aus diesem Grund braucht Jugendhilfe eine größere Lobby, eine gute Öffentlichkeitsarbeit und Entscheidungsträger, die sich hinter sie stellen. Für solche Aushandlungsprozesse sind die Projekte eine gute Möglichkeit, Themen der Jugendhilfe und der sozialen Arbeit nach außen zu transportieren und diese stärker in das gesellschaftliche und politische Bewusstsein zu bringen.

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