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Regionalisierung, Aufbau integrierter und flexibler Hilfestrukturen in den 90-er Jahren

Eine zweite dynamische Entwicklungsphase der Einrichtung beginnt nach der Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII). Ein umfangreicher Planungsprozess im Landkreis Tübingen wird durch den Sozialdezernenten, Dieter Rilling, initiiert. Grundlage sind die fachlichen Forderungen des achten Jugendberichts und die programmatischen Intentionen des neuen Kinder- und Jugendhilferechts. Viele der von Bonhoeffer, Thiersch, Frommann und weiteren Repräsentant*innen der Fachwelt geprägte Gedanken fließen mit ein. Für die Einrichtung bedeutet dieser Jugendhilfeplanungsprozess viele neue Aufgaben: Aufbau regionaler Jugendhilfestationen, Umsetzung integrierter, sozialraumorientierter und flexibler Hilfen, Ausbau der ambulanten Erziehungshilfen und niederschwelliger Anlaufstellen, Vernetzung im Gemeinwesen.

Nachbarschaftliche Selbsthilfe: das NaSe-Projekt startet. Nach Abzug des Französischen Militärs in der Tübinger Südstadt eignen sich die großen Wohnungen in den ehemaligen Kasernengebäuden – unrenoviert – als billiger Wohnraum. Im Wohnquartier Stuttgarter Straße leben nun ca. 120 Familien aus ca. 20 Nationalitäten in 6 Wohnblocks, insgesamt über 600 Bewohner*innen, davon rund 230 Kinder im Alter von 0-18 Jahren. Kinderreiche Familien und Alleinerziehende sind überrepräsentiert. Mit Hilfe des Landeswohlfahrtsverbandes Württemberg-Hohenzollern wird in einer der Wohnungen das Projekt NaSe (Projekt zur Förderung nachbarschaftlicher Selbsthilfe) als niederschwellige Anlaufstelle eingerichtet. Das Projekt ist mit einer halben Stelle ausgestattet. Die Mitarbeiterin wird schnell zur allseits anerkannten helfenden Instanz im Quartier.

Aufbau der regionalen Jugendhilfestationen. Der Sozialdezernent des Landkreises Dieter Rilling initiiert auf dem fachlichen Hintergrund der Intentionen von Kinder- und Jugendhilfegesetzes, 8. Jugendbericht und bereits vorhandenen Modellentwicklungen der beteiligten Träger die Planungsgruppe Jugendhilfestationen. Ziel ist die Versorgung des Landkreises mit einem flächendeckenden Netz ambulanter und teilstationärer Hilfen. Die Martin-Bonhoeffer-Häuser übernehmen die Versorgungsbereiche Tübingen-Nord, Tübingen-Süd und Ammerbuch.

Aufbau der Sozialen Gruppenarbeit der Jugendhilfestation-Süd. Die grundlegende Ausrichtung: Nicht die Jungen und Mädchen müssen zu den Hilfen kommen, sondern umgekehrt. Der Standort des Projekts wird bewusst mit Fenster zum Hof im Erdgeschoss eines der Wohnblocks der Stuttgarter Straße gewählt. Schnell ist es völlig ausgelastet und teilweise überlastet. Der Bedarf der ausschließlich älteren Jugendlichen ist enorm. Auch Mädchen aus muslimischen Familien haben nun einen Platz. Aber es braucht zuvor große Anstrengungen, das Vertrauen ihrer Eltern zu gewinnen.
Aufbau der Sozialen Gruppenarbeit der Jugendhilfestation-Nord: Neben der Arbeit mit der „Teenie-Gruppe“ bleibt hier auch Raum für präventive Arbeit mit Kindern in der sog. Grusl-(Grundschul)gruppe. Für den Baustein III, ein Angebot zur Hilfe im Übergang Schule-Beruf wird 1998 die Kapazität weiter aufgestockt, eine weitere Wohnung mitten im Zentrum von Waldhäuser-Ost steht zur Verfügung.

Mobiler Dienst für integrierte, flexible erzieherische Hilfen, Jugendhilfestation-Süd: Der Anspruch bedarfsgerechter Hilfeleistung steht gegen die Versäulung der Einzelfallhilfen in je spezielle Dienste für sozialpädagogische Familienhilfe, Intensive Sozialpädagogische Einzelfallhilfe, Erziehungsbeistandschaft und Betreutes Jugendwohnen mit je eigenen Bedingungen an die Klientel. Hilfe soll flexibel am individuellen Bedarf ausgerichtet werden. Auch bei Veränderungen des Bedarfs sind Kontinuität und Beziehungskonstanz in der Betreuung zu achten, Abbrüche und Weiterleitung deshalb zu vermeiden. Die Aufgabe der integrierten und flexiblen Einzelfallhilfe im Tübinger Süden liegt von nun an in Händen des Mobilen Dienstes. Eine feste Kapazität ist nicht vorgesehen. Anspruch ist vielmehr allein, dem sich jeweils zeigenden Bedarf auch personell „maßgeschneidert“ gerecht zu werden. Das stellt hohe Anforderungen an die Personalentwicklung, -vorhaltung und Einsatzplanung, an Arbeitszeit- und Zeitkontenmodelle, vor allem aber an Qualifikation und Flexibilität der Fachkräfte selbst. Der Mobile Dienst Süd startet in den Räumen des NaSe-Projekts mit einer Fachkraft und wird sich in den Folgejahren zu einem sehr umfangreichen und mit vielfältigen Aufgaben betrauten Dienst entwickeln.

Aufbau Mobiler Dienst auch für die Jugendhilfestation-Nord: Die Kinder, Jugendlichen und Familien im Norden sollen und können und sollen auch nicht vom bereits im Süden eingerichteten Mobilen Dienst mitversorgt werden. Sozialraumorientierung bedeutet Präsenz, Einbindung, Bekannt-Sein und Kenntnis der Verhältnisse vor Ort. Auch hier wird mit einer Fachkraft begonnen, die im Lauf der Jahre drei Kolleg*innen hinzubekommen wird.

Aufbau Mobiler Dienst der Jugendhilfestelle Ammerbuch: Die Struktur der aus sechs Ortschaften bestehenden Gemeinde Ammerbuch stellt besondere Anforderungen an die Mobilität. Der Mangel an Beratungsräumen vor Ort erfordert die suboptimale Anfahrt aus Tübingen und steht der kontinuierlichen Präsenz im Sozialraum entgegen. Dies wird sich erst bessern, als 2001 ein Haus in der Entringer Paulinenstrasse von den Fachkräften des Mobilen Dienstes und ihren Kolleg*innen als Jugendhilfestelle Ammerbuch in Betrieb genommen werden wird.

Bundesmodellprojekt INTEGRA. Der Entwicklungsprozess der Jugendhilfestationen wird von 1998 bis 2003 unterstützt durch das Bundesmodellprojekt INTEGRA, dem sich der Landkreis Tübingen anschließt. Der Landkreis ist im Rahmen des Bundesmodellprojekts neben Dresden, Celle, Erfurt und Frankfurt/Oder einer der fünf Standorte. Das Projekt wird federführend von der IGfH (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen) durchgeführt und aus Mitteln des Bundes finanziert.

Mobiler Dienst an der Französischen Schule, Jugendhilfestation-Süd: Einzelfallbezogene Zusammenarbeit reicht angesichts der Dynamik der sozialen Entwicklung im Einzugsbereich der Grundschule nicht aus. Zwei Fachkräfte mit je einer halben Stelle leisten nun dauerhaft im Schulalltag sozialpädagogische Hilfe.

Jubiläum zum 25-jährigen Bestehen des Vereins: Ein schönes Fest, mit vielen Begegnungen von ehemaligen Mitarbeiter*innen, Jugendlichen und Weggefährt*innen der Einrichtung und mit spannenden Fachveranstaltungen. Eine Dokumentation mit vielen Berichten und Vorträgen steht als Druckversion zur Verfügung.

Beginn der Frauengruppe, Jugendhilfestation-Süd: Ein eigener Ort für Mütter ermöglicht Integration, Austausch, Beratung und gegenseitige Stärkung. Dieses Angebot im Vorfeld spezieller fallbezogener Erziehungshilfe leistet fortan mit geringem Aufwand (an Kapazitäten braucht das kleine, aber sehr wirkungsvolle Angebot lediglich 0,14 Fachkräftestellen) wertvolle Präventionsarbeit.

Jugendsozialarbeit an den Schulen Ammerbuchs: Landkreis, Städte und Gemeinden wollen Schulsozialarbeit an möglichst allen Hauptschulen ermöglichen und nutzen ein Förderprogramm des Landes Baden-Württemberg zur diesbezüglichen Offensive. Die bisher schon intensive, aber nur am Einzelfall mögliche Zusammenarbeit zwischen der Jugendhilfestelle und den beiden Grund-, Haupt- und Werkrealschulen kann nun durch Einstellung zweier Schulsozialarbeiter*innen mit je halber Stelle ein gutes Fundament erhalten. Das neue Angebot entlastet die Schulen und nimmt Druck von der Erziehungshilfe, denn Probleme von und mit Schüler*innen können nun frühzeitig in alltäglicher Kooperation von Schul- und Sozialpädagogik vor Ort angegangen werden. Bürger*innen aus Ammerbuch helfen ehrenamtlich mit. Umgekehrt unterstützt die Jugendhilfestelle Bürgerprojekte, wie die Kinderspielstadt „Los Ämmerles“

Soziale Gruppenarbeit Jugendhilfestelle Ammerbuch: Nicht jede Entwicklungsgefährdung muss mit intensiver Einzelhilfe oder Tagesgruppe beantwortet werden. Soziales Lernen und Wachsen in der Gruppe Gleichaltriger im Rahmen der Erziehungshilfe ist nun auch in Ammerbuch möglich. Zwei Fachkräfte (Teilzeit) und ehrenamtliche Helfer*innen bieten nun geschlechter- und altersdifferenzierte soziale Gruppenarbeit in Entringen, Altingen und an der Förderschule in Reusten an.

Gruppenarbeit an der Hügelschule, Jugendhilfestation-Süd: Zunehmend zeigen Schüler*innen der Grundschule Bedarf an erzieherischer Hilfe. Ein Gruppenangebot an der Schule soll ihnen zur Stabilisierung verhelfen, um stärker eingreifende Maßnahmen möglichst noch vermeiden zu können. Zwei Fachkräfte übernehmen diese Aufgabe der gezielten nachmittäglichen Betreuung und Förderung. Wo zusätzlich Unterstützung der Eltern erforderlich ist, werden Betreuungshelfer*innen des Jugendamtes eingesetzt.

Angliederung Mutter-Kind-Projekt an die NaSe: Im Sinne sozialräumlicher Strukturierung der Leistungen wird die Gruppenarbeit des beim Landkreis angesiedelten Mutter-Kind-Modells regionalisiert. Im Tübinger Süden kommt die Aufgabe dem Projekt Nachbarschaftliche Selbsthilfe zu.

Eröffnung der ersten Intensiven Sozialen Gruppenarbeit (ISGA), der „Pauli-Gruppe“, Jugendhilfestation-Süd: Für den Bedarf einer beträchtlichen Anzahl hilfebedürftiger Kinder aus der Südstadt, wäre die Tagesgruppe zu betreuungsintensiv, die Möglichkeiten der Sozialen Gruppenarbeit jedoch nicht ausreichend. Deshalb wird die Intensive Soziale Gruppenarbeit (ISGA) konzipiert. Zwei Fachkräfte - Heilpädagogin und Sozialpädagoge - übernehmen die Aufgabe für acht Kinder im Haus Paulinenstraße der Tübinger Südstadt. Mindestens eine Stunde Elternarbeit pro Monat ist für die Mütter und Väter verpflichtend. Die Kinder kommen drei Nachmittage pro Woche, geöffnet ist vier Tage, damit differenziert - z.B. auch in Form der Einzelbetreuung - gearbeitet werden kann.

Projekt Zebra in Ammerbuch-Altingen: An der Grund-, Haupt- und Werkrealschule in Ammerbuch-Altingen entsteht mit Hilfe der Landesstiftung ein Projekt zur Förderung vielseitiger Qualifikationen der Schüler‘innen. In unterschiedlichen Kursen werden ihnen praktische Fähigkeiten fürs Leben und zur Erhöhung ihrer späteren beruflichen Chancen vermittelt. Die Martin-Bonhoeffer-Häuser übernehmen Anstellung und Fachberatung der Pädagogischen Fachkraft für die Projektdauer. Leider findet das Projekt nach Ende der Förderzeit keine Fortsetzung in der Gemeinde.

Stärkung der präventiven Arbeit: Präventive Jugendhilfe darf nicht erst tätig werden, wenn Erziehungshilfebedarf schon eingetreten ist. Der Landkreis ermöglicht fallübergreifende Leistungen für offene Angebote im Gemeinwesen im Umfang von fünf Prozent des fallbezogenen Budgets. Eine Vielzahl von Projekten und Aktionen unter Beteiligung bürgerschaftlicher Engagements entsteht. Als Leitbild dient § 1, Abs. 3, Satz 4 SGB VIII: "Jugendhilfe soll dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen".

Mobiler Dienst an der Grundschule Winkelwiese/Waldhäuser-Ost: Auch an der Grundschule im Norden zeigt sich, dass allein fallbezogene Zusammenarbeit nicht ausreicht. Eine Fachkraft mit halber Stelle geht vor Ort.

Ringen um den Erhalt der Hilfestrukturen und teilweiser Rückbau: Die im Sinne des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und des achten Jugendberichts vorbildliche und bundesweit beachtete Jugendhilfeentwicklung im Landkreis Tübingen führt zu steigenden Ausgaben im Kreishaushalt. Zunächst müssen die gerade erst durch den neuen Finanzierungsrahmen möglich gewordenen fallübergreifenden Leistungen wieder eingestellt werden. Es folgt ein Kapazitätsrückbau bei Sozialer Gruppenarbeit und Tagesgruppe sowie ein Paradigmenwechsel im Sinne der stärkeren Ausrichtung auf das „Kerngeschäft“ der Erziehungshilfe. Die Hilfemöglichkeiten der Martin-Bonhoeffer-Häuser trifft dies mit Reduzierungen der Tagesgruppe-Nord (50%), der Sozialen Gruppenarbeit-Nord (40%), der Sozialen Gruppenarbeit-Ammerbuch (25%), des Mobilen Dienstes an der Französischen Schule (50%) und des Mobilen Dienstes an der Grundschule Winkelwiese/Waldhäuser-Ost (100%).

Plötzlicher Tod von Peter Schmid am 9.10.2006 kurz vor dem geplanten Eintritt in den Ruhestand. Peter Schmid hat über 25 Jahre lang die Geschicke der Einrichtung mit gelenkt. Am gleichen Tag fällt die Entscheidung für die Nachfolge.

Zunächst kommissarische Leitung der Einrichtung durch Heinz Henes, bis dann Matthias Hamberger am 1.5.2007 die Gesamtleitung der Einrichtung übernimmt.

Erweiterung Schulsozialarbeit: Der Mobile Dienst an der französischen Schule wird mit einer 50%-Stelle unter dem neuen Titel Schulsozialarbeit weitergeführt. Die Finanzierung teilen sich künftig die Stadt mit 75% und der Landkreis mit 25% der Kosten. Gleiches gilt für die 50%-Stelle der Schulsozialarbeit an der Grundschule WHO/Winkelwiese.